Der Mord an Kurt Eisner könnte auch anders erzählt werden, und die Varianten der Nazi-Propaganda hängen noch über der ganzen Geschichte: Auch der königstreue Kardinal Faulhaber hatte seine Rolle in der Sache:

Nach dem Gottesdienst zur Eröffnung des Landtages am 21.2.1919 fünf Minuten vor 10 hörte er erst einen, dann fünf Schüsse … theologie.geschichte Beihefte, Nr. 7 (2013)

denn er wohnte um die Ecke in der Prannerstr. 1 und kehrte gerade vom Dom zurück.


Das andere Bayern

gedenkt seit Jahren der Ermordung des ersten Bayrischen Ministerpräsidenten an der Stelle des Bodendenkmals in der Faulhaber-Straße, um 11 Uhr mit Kranz und Einladung an alle Interessierten, und fordert eine Benennung eines zentralen Platzes in der Stadt für den Ausrufenden des Freistaates und Vorkämpfer der Demokratie.


Mit der Revolution hatte Faulhaber seinen sicheren Bezugspunkt verloren:

Der König geflüchtet, die soldatische Ordnung gebrochen, Adel und Offiziersränge, mit denen er gelebt hatte, abgeschafft: Der königlich bayrische „Feldkaplan“ fühlt sich „wie über den Kopf geschlagen“.

Die Verrohung durch den Krieg hatte auch ihn angesteckt: Kriegspropaganda hatte über Jahre auch von den Kanzeln den Dienst und Heldentod für’s Vaterland gepredigt, und Unrecht wie der Durchmarsch durch Belgien und die Unterwerfung des neutralen Landes wurde mit der größeren Sache durch Adel und König gerechtfertigt.

Den Mörder empfängt er, den Ministerpräsidenten nie

Die Abschaffung der Pflicht zum Religionsunterricht und die Einführung der freien Wahl für die Kinder wurde im Wahlkampf Dezember 1918 / Januar 1919 ziemlich aufgeblasen zum „Mord an den Seelen unserer Kinder“:

Kardinal Faulhaber bereitete mit seinem Hirtenbrief zum Betlehemitischen Kindermord des Herodes den Boden für die Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner:

Der 21jährige Jura-Student und Leutnant Anton „Graf“ Arco führte ihn aus, nach dem ihm die rechtsextrem hetzende rassistische Thule-Gesellschaft verschlossen blieb:

Dort musste man 1917 schon „judenreines Blut“ über drei Generationen nachweisen, um unter dem Hakenkreuz im Hotel VierJahreszeiten zu sitzen, doch seine Mutter stammte aus der bekannten jüdischen Familie Oppenheimer, hatte ihn aber katholisch erzogen und war protestantisch geworden.

Adel schwebte über allem

Die ständische Gesellschaft verkehrte natürlich am Hofe wie in der kirchlichen Repräsentation, die in der Fronleichnamsprozession die königliche und göttliche Rangordnung bis ins Kleinste abbildete.

Ein ähnliches, aber hier weniger anerkanntes Abbild gab es auf Reichs-Ebene: Der Kaiser in Berlin galt als oberster Repräsentant der Protestanten, wie der König der Bayern als Schirmherr und staatlicher Gottesvertreter der Katholiken.

Die gottgegebene Regierung

Die Schulaufsicht aller bayrischen Schulen war in den Händen der Kleriker, die in ihrer Hierarchie die Lehrenden als unterste Schicht ansahen, neben Mesner- und Organisten-Diensten schlecht bezahlt, erst in der Lateiner-Schicht der Gymnasien-Studienräte und Professoren „standesgemäß“.

Der Entzug der kirchlichen Schulaufsicht

Die neue Verfassung, das Staatsgrundgesetz der Republik Bayern  vom 4. Januar 1919 (Auszug)

13. Die Gemeinden und Gemeindeverbände haben das Recht, weitgehender Selbstverwaltung. Die Wahlen zu den gemeindlichen Vertretungskörpern erfolgen nach den Grundsätzen des Landtagswahlrechts.

14. Die Glaubensgesellschaften sind unabhängig von Staate und unterstehen dessen Schutz. Alle Glaubensgesellschaften sind gleichberechtigt und frei in ihrer Bestätigung. Niemand kann zum Eintritt in eine Glaubensgesellschaft, zur Teilnahme an ihren Kultus oder zum Verbleiben in einer Glaubensgesellschaft gezwungen werden.

Bestehende Rechte der Glaubensgesellschaften können nur auf dem Wege der Gesetzgebung abgelöst werden.

15. Das Unterrichtswesen ist eine staatliche Angelegenheit. Die Erteilung des Religionsunterrichts obliegt den Glaubensgesellschaften. Staatliche Lehrpersonen können zur Erteilung des Religionsunterrichts nicht gezwungen werden; die Erziehungsberechtigten können von Staatswegen nicht gezwungen werden, die ihnen anvertraute Jugend zur Teilnahme am Religionsunterricht oder an religiösen Übungen anzuhalten.


Die Abschaffung des Pflichtfaches Religionsunterricht
und die Wahlfreiheit bei Faulhaber als Kindermord

Böswillige Agitation der Bayrischen Volkspartei auch in den Faulhaber – Hirtenbriefen

„Herodes der Kindermörder ließ die unschuldigen Kinder von Bethlehem hinschlachten. 
Unbekümmert um das Weinen und Wehklagen der Mütter, unbekümmert um das Todeswimmern der sterbenden Kinder, ließ er an wehrlosen Kindern seine Wut aus, um mit ihnen den neugebornen König der Juden, den vermeintlichen Anwärter seines Thrones aus dem Weg zu schaffen“.

In einer extrem polemischen und ehrverletzenden Art geht es weiter:
„Geliebte Erzdiözesanen!
Am letzten Montag ist im Volksstaate Bayern eine Verordnung ergangen, die vor dem Richterstuhl Gottes schwerer wiegt als der Blutbefehl des Herodes.
Durch eine Verordnung des Unterrichtsministers wurde der Religionsunterricht in allen bayerischen Schulen als Pflichtfach abgesetzt und als Wahlfach der Willkür der Eltern und Vormünder ausgeliefert“.
Um den 2. Februar 1919 „Freisinger Erklärung“ der bayerischen Bischöfe bei Münchner Zeitensprünge, Hartbrunner

Wahlkampf – erstmals mit Frauen

Die Bayrische Volkspartei kann auf kirchliche Wahlhilfe bis in die letzten Landgemeinden rechnen:

„Da es noch erhebliche Vorbehalte gegen die neue Beteiligung der Frauen in allen Bereichen gab – Graf Pfetten von der Adelsgenossenschaft erklärte Faulhaber selbst nach den Wahlen noch, er sei gegen die „Gleichberechtigung der Frauen“ 100 – griffen die bayerischen Bischöfe in ihrem Hirtenbrief vom 29. Dezember 1918 schon dieses Thema auf, sahen den Lernbedarf aber bei den Frauen: „die Frauen werden vor die ganz neue Aufgabe eines unmittelbaren Zusammenwirkens mit den Männern gestellt. Sie werden viel lernen müssen

[…]“. Der allerwichtigste Schritt sei nun, „zur Wahlurne [zu] treten und zwar aus Gewissenspflicht.“ 101″

(S. 21 im Beiheft, S.80 in Antonia Leugers „weil doch einmal Blut fliessen muss , bevor wieder Ordnung kommt“ Erzbischof Faulhabers Krisendeutung in seinem Tagebuch 1918/19 in: theologie.geschichte Beihefte, Nr. 7 (2013)

Die Wahlpropaganda der Bayerischen Volkspartei 1919 nutzte auch und gerade die propagandistische Wirkung von Wahlplakaten. Diese verdichteten nicht etwa positive inhaltliche Aussagen des eigenen Wahlprogramms, sondern schürten plakativ Ängste vor dem politischen Gegner durch Feindbilder: der überdimensioniert dargestellte kirchenfeindliche Spartakist, der gewaltsam die Münchner Frauentürme eindrückt und der die Brandfackel vom roten Berlin aus auf
München richtende Bolschewik. Auch die Wahlslogans dieser Plakate waren aggressiv zugespitzt: „Christliches Volk! Darf Spartakus deine Kirchen niederreißen? Gib Antwort am Wahltag! Bayerische Volkspartei“ 107 Oder: „Bayern, der Bolschewik geht um! Hinaus mit ihm am Wahltag! Bayerische Volkspartei.“ 108″ (S. 22 im Beiheft, S.81 in Antonia Leugers „weil doch einmal Blut fliessen muss , bevor wieder Ordnung kommt“ Erzbischof Faulhabers Krisendeutung in seinem Tagebuch 1918/19 in: theologie.geschichte Beihefte, Nr. 7 (2013)

Verweigerung der Ehrbezeugung für den ermordeten Ministerpräsidenten Eisner

Über das demokratische Wahlergebnis mit BVP-Mehrheit war eine gewisse Beruhigung eingetreten. Faulhaber wurde gebeten, in alter Tradition die Pontifikalmesse zur Eröffnung des neuen Landtags am 21. Februar 1919 zu halten. Anschließend ging er zu Fuß vom Dom in die Promenadestraße 7 zum Erz-
bischöflichen Palais heim, als er – wie er notierte – fünf Minuten vor 10 Uhr zunächst einen, dann fünf Schüsse hörte. Er hielt damit fest, Ohrenzeuge der Ermordung von Kurt Eisner auf der gegenüberliegenden Straßenseite bei Hausnummer 1 durch Anton Graf Arco auf Valley gewesen zu sein. Seine Notiz im Tagebuch: „Das ist sehr schlimm. Bayern war auf dem Weg zur Ruhe und Gott weiß, was jetzt wieder kommt.“ (S. 25 im Beiheft, S.84 in Antonia Leugers „weil doch einmal Blut fliessen muss , bevor wieder Ordnung kommt“ Erzbischof Faulhabers Krisendeutung in seinem Tagebuch 1918/19 in: theologie.geschichte Beihefte, Nr. 7 (2013)

Glockenläuten zur Eisner-Beisetzung

war ein Streitpunkt, der an manchen Orten gewaltsam durchgesetzt wurde,

Die Weigerungen, schwarze Fahnen auszuhängen und Glocken unaufgefordert zu läuten 126 nach der schrecklichen Todesnachricht und während der Beisetzungsfeierlichkeiten, zogen bei den Anhängern Eisners und den katholischen Geistlichen unwürdige Szenen nach sich, diese Symbolhandlungen unter Druck durchsetzen bzw. nicht allein schon aus Mitleid leisten zu wollen. Der Dompfarrer verkündete, sich lieber erschießen
lassen zu wollen. 127

Nach Gustav Landauers Rede, in der er Kurt Eisner mit Jesus und dem als Ketzer verbrannten Jan Hus verglichen hatte, 128 beendete Faulhaber sein Schweigen, protestierte gegen gewaltsame Trauerbeflaggung, gewaltsames Trauergeläut und gegen die für ihn blasphemische Traueransprache. 129

Fahnen an der Erzbischöflichen Residenz

und ihre gewaltsame Anbringung waren ein deutliches Zeichen: Wir wissen, was da schief läuft, mit den Rechten …

Der Königliche Seelsorger

hatte der sterbenskranken Königin Therese noch eine Krankenbibel geschenkt, bevor sich das Königshaus, das anscheinend auch keine Verbindung zur städtischen Wirklichkeit hatte, als Familie mit ein paar Bediensteten auf die Flucht begab.

Der Feldkaplan

zitterte in seiner Residenz, wenn er sich nicht in Freising draußen mit seiner bayrischen Bischofkonferenz traf. Doch hatte er problematische Zuträger:

Vom geistlichen Rat Hermann Sturm, 144 der sich bei Eisner sogleich am 8. November einen Ausweis hatte ausstellen lassen, wurde Faulhaber über Eisner und Auer ins Bild gesetzt. Sturm kolportierte das Stereotyp der reichen Juden, die hinter allem stecken. Es stünden „riesige Gelder zur Verfügung, von den Großkapitalisten und Juden gespendet, die auf diese Weise die Bewegung in der Hand haben wollen.“ 145 (S. 31 im Beiheft, S.90 in Antonia Leugers „weil doch einmal Blut fliessen muss , bevor wieder Ordnung kommt“ Erzbischof Faulhabers Krisendeutung in seinem Tagebuch 1918/19 in: theologie.geschichte Beihefte, Nr. 7 (2013)

(Sturm war Besitzer der Münchner Zeitung Bayerisches Vaterland, die Hoser (Hintergründe, S. 107) als klerikal, antisemitisch und sozialreformerisch charakterisiert. )

Kontakt-Verweigerung

Auch den päpstlichen Gesandten ließ er lieber in die Schweiz flüchten, als dass er mit der neuen Regierung sprechen würde: Auch er verweigerte jedes Gespräch, jeden Kontakt, der ihm als Kooperation hätte ausgelegt werden können, hatte aber reichlich Kontakte zu den alldeutschen, nationalistischen, adeligen und großbürgerlichen Kreisen, die seine Angst schürten, obwohl den Geistlichen und Kirchen nichts passiert war, er überrascht aus dem Fenster sah, dass sich Geistliche (bis dahin immer in Soutane) unbehelligt auf den Straßen bewegten.

Sicher hätte er missbilligt, dass in der Reihen der ländliche Räte etliche kirchliche Mitarbeitende vertreten waren.

Bewaffnete rechte Gewalt als legitimes Mittel zur Herstellung von Ruhe und Ordnung

„Im Frühjahr 1919 setzte Faulhaber seine Hoffnung zur Befreiung Münchens auf die Regierungstruppen und die Freicorps, in denen auch katholische Missionsschüler, (209) Theologiestudenten und Geistliche mit kämpften. (210) In Klöstern (211) und Pfarrhäusern waren mit Faulhabers Wissen (212) Waffenlager der Weißen Garde angelegt worden.

Er atmete auf: „München nicht mehr im Zeichen der roten Fahnen!“ Überall das „weiß-blaue Zeichen“. „Sogar das Bild von Eisner im Ministerium ist verschwunden.“ Diese Truppen wirkten auch physiognomisch auf ihn ganz anders als die Rote Garde: „Geschlossene Verbände ziehen durch die Stadt, wieder einmal richtige Soldaten – ganz andere Gesichter. Der Geistliche wird wieder gegrüßt.“ 213

Faulhabers Stimmung hob sich: „Auf [dem] Odeonsplatz eine Reiterschar mit weißblauen Fähnchen. Alle Fenster öffnen sich und alle Hände grüßen. Ein Mann wird besonders umringt und jubelnd begrüßt: Oberst [Franz Xaver Ritter von] Epp im Mantel. Eine ganz andere Luft in München, man sieht sogar wieder deutsche Farben, die außerbayerischen Offiziere tragen ihre Rangabzeichen und ihre Orden.“ 214

(S. 48 im Beiheft, S.107 in Antonia Leugers „weil doch einmal Blut fliessen muss , bevor wieder Ordnung kommt“ Erzbischof Faulhabers Krisendeutung in seinem Tagebuch 1918/19 in: theologie.geschichte Beihefte, Nr. 7 (2013)


http://universaar.uni-saarland.de/

„Weil doch einmal Blut fliessen muss, bevor wieder Ordnung kommt“
Erzbischof Faulhabers Krisendeutung in seinem Tagebuch 1918/19

Antonia Leugers
„Es sei gar nicht so schlimm“, tröstete der 28-jährige Sekretär Alfons Ammer den Münchner Erzbischof am 13. November 1918, „die Kirche würde dann geistig um so freier werden. Die Regierung sei auch nicht so schlimm […].“
Michael von Faulhaber notierte Ammers moderate Lagebeurteilung nach der Revolution verwundert in sein Tagebuch, denn die Nacht vom 7. auf den 8. November hatte der 49-jährige Faulhaber sogar als die „schrecklichste Nacht meines Lebens“ gewertet.
Am nächsten Tag versuchte er seinen Zustand näher zu umschreiben: „Es ist mir nun immer, als ob man mir mit einem Prügel auf den Kopf geschlagen hätte, und das Herzklopfen […] ist nicht besser geworden.“
Noch am 10. November hatte er nachts „keine halbe Stunde geschlafen“ und „seit dreiTagen nichts mehr richtig gegessen. […] Es ist mir immer, als ginge ich über ein Brett, das über einen Abgrund gelegt und schwankt.“
Er kam nicht zur Ruhe. Die am 11. November bekannt gegebenen  Waffenstillstandsbedingungen wirkten auf den Feldpropst der bayerischen Armee „wie ein Hammerschlag auf den Kopf.“5
Und nun wollte ihn dieser Sekretär ausgerechnet damit trösten, dass alles nicht so schlimm sei! Faulhaber hingegen fühlte sich brutal verletzt und ohne festen Boden unter den Füßen.

Weiterarbeit an der Geschichte

Es sind immer mehr wirkliche Quellen aus jenen Zeiten offen, und immer mehr Leute forschen nach ihren Möglichkeiten, aus den verdorbenen Nachrichten der Nazi-Propaganda und der folgenden Geschichts-Unterrichte der bayrischen fünfziger und sechziger Jahre, die sich fest gesetzt hatten, die wirklichen Ereignisse und die Hintergründe der Lebenssituationen im Hunger und im Lohnstreit zu erfahren.

Die Hetze gegen Pazifisten und Andersdenkende wiederholt sich in der Aufrüstung schon wieder, und wenn wir fragen, wo der Feind ist … sind es wir?

Das Plenum R

veranstaltete die erste Revolutionswerkstatt in der Sendlinger Kulturschmiede und sammelte viel Interessierte zu den Themen, die in den nächsten Jahren in Gruppen und Geschichtswerkstätten aller Art im ganzen Land die jeweilige örtliche Geschichte der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, deren Hoffnungen und Scheitern unter der feindseligen Propaganda ergründen können, um zu verstehen, wie Bayern zum Vorreiter des Faschismus wurde.

Plenum R bedeutet, dass sich Arbeitsgruppen finden und gegenseitig berichten, was der aktuelle Stand der Dinge ist, um Literatur, Quellen, Denkmäler, Aktionen, Veröffentlichungen … bis zu Stadtführungen und Veranstaltungen.